Spannende Reise in die Welt Kafkas
Diedrich Hinrichs
Wie bloß lässt sich ein seltsamer, schwieriger, schüchterner und mystischer Mensch in seinen so vielschichtig erscheinenden Wesenszügen vorstellen, um ihm dabei auch nur annähernd gerecht zu werden? Vor diese Aufgabe sah sich Hendrik Becker in seiner szenischen Lesung „Als Kafka mir entgegen kam…“ am gestrigen Abend (19.02.2013) im Forum unseres Gymnasiums gestellt. Der Schauspieler meisterte diese Herausforderung mit Bravour — und der Unterstützung seines überwiegend aus Schülerinnen und Schülern der 11. und 12. Jahrgangsstufe bestehenden Publikums.
Als Suchender ging am Dienstagabend Hendrik Becker, Schauspieler des Theaters Löwenherz (Burgwedel-Wettmar), in seiner sich durch einen großen „Mitmachcharakter“ auszeichnenden Lesung auf biografische Entdeckungsreise. Disparate Fundstücke (Texte, Anekdoten und Tagebucheinträge) aus der Welt eines fremden Autors galt es, für den gespielt überforderten Akteur für einen Auftritt auf der Bühne zusammenzufügen, um seinem Publikum ein möglichst weites Bild der Person Franz Kafka zu präsentieren.
Dabei unternahm er gar nicht erst den Versuch, den schon viele Interpreten wagten, nämlich zur Sinnerhellung von Kafkas teilweise nur fragmentarischen Texten, von denen Becker an diesem Abend einige auszugsweise vortrug („Der Storch im Zimmer“, „In der Strafkolonie“ und „Die Verwandlung“), beizutragen; denn er blieb die Antwort auf die im Zusammenhang mit dem Verstehen von Kafkas kompliziertem literarischen Werk oft verzweifelt gestellte Frage „Was haben wir zu denken?“ schuldig und ließ bewusst die Sprache des bedeutenden Literaten, der „wie kein anderer aufs Wort gesetzt“ hat, einfach für sich wirken.
Aber das zuerst genannte Unterfangen lag auch nicht in der Absicht des Rezitators. Hendrik Beckers Autoreneinstieg brachte den Verfasser „grausamer und schmerzhafter Bücher“ auf der einen, den sensiblen Poeten und genauen Beobachter des Alltäglichen auf der anderen Seite unseren Gymnasiasten mit Hilfe von Anekdoten, Tagebucheinträgen, Briefen und Nachrufen peu a peu näher, zeichnete damit konturiert dessen Biografie nach und ließ zur Verlebendigung des Vorgetragenen die wichtigsten Personen in Kafkas Leben auf der Vortragsbühne der Reihe nach aufziehen: Aus den Reihen des Publikums rekrutiert wurden somit Franz Kafka höchstselbst, seine Eltern und Lieblingsschwester Ottla, sein bester Freund und Nachlassverwalter Max Brod sowie seine ihm allesamt verfallenen sechs Freundinnen.
Und unsere Oberstufenschüler/innen erwiesen sich an diesem Abend nicht nur als aufmerksame Zuhörer, sondern ließen sich zudem auf das ihnen offerierte Angebot zum Mitspielen willfährig ein. Auf diese Weise zusätzlich „visualisiert“, wurde das ein oder andere von Becker lesend vorgetragene „biografische Mosaiksteinchen“ im ureigensten Sinne des Wortes „ersichtlich“ und trug zum immer deutlicher werdenden Bild des großen Dichters der literarischen Moderne bei.
So wurde zum Beispiel das problematische Vater-Sohn-Verhältnis erhellt, die Schwierigkeit erwähnt, selbst mit seinem einzigen Freund Max Brod „normal“ zu kommunizieren, ebenso seine Vorbilder und — aufgrund der Unmöglichkeit, nicht lügen zu können — auch seine Feindbilder. Und weiter: Kafkas Umgang mit Geld („Bettlergeschichte“), die Bedingungen und Umstände seiner literarischen Produktion, seine Beziehungen zu Frauen, insbesondere zu Dora Diamant, seine Unversöhnlichkeit mit der Familie selbst am Vorabend seines Todes, die im Elternbrief vom 2. Juni 1924 zum Ausdruck kommt, und nicht zuletzt die anrührende Anekdote, nach deren Überlieferung Kafka ein kleines Mädchen über den Verlust ihrer Puppe hinwegzutrösten vermochte, weil seine einfühlsamen Briefe an die Trauernde sie die Realität vergessen und für das Kind eine literarische Fiktion real werden ließen.
Die eingangs sowohl sich selbst als auch seinem Publikum gestellte Frage „Wie soll man so einen Menschen wie Franz Kafka darstellen?“ ließ sich am Ende der szenischen Lesung relativ einfach und schnell beantworten: Genau so! Denn — und darüber herrschte unter allen Anwesenden große Einigkeit — besser und lebendiger kann man „trockenes Biografiematerial“ wahrlich nicht vermitteln.
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Fotos: Diedrich Hinrichs